Entstehungsbericht aus erster Hand – Jenny Erpenbeck spricht über „Heimsuchung“
Wenn Schülerinnen und Schüler über Literatur sprechen, wenn sie sich mit einem Roman oder einem Gedicht beschäftigen, haben sie es oft mit Texten zu tun, deren Urheber schon tot sind. Mitunter aber gibt es Gelegenheit, mit noch lebenden Autoren beschäftigt zu sein. Selten aber das Glück, dass eine bekannte Autorin über die Entstehungsgeschichte ihres Romans – einer vorgeschriebenen Lektüre zum Deutsch-Abitur – live berichtet. So geschehen bei den Tübinger Werkstattgesprächen, in deren Rahmen Frau Erpenbeck am 17. November 2025 eine Vorlesung zu ihrem Roman „Heimsuchung“ gehalten hat.
„Verworfene Anfänge“ ist der Titel der Vorlesung Jenny Erpenbecks und er bezieht sich laut der Autorin auf die Inhalte, die sie ursprünglich für die einzelnen Kapitel des Romans verfasst hat und die sie letztlich nicht genommen, also verworfen hat. Erpenbeck erzählt in „Heimsuchung“ von der „wechselvollen deutschen Geschichte im mörderischen 20. Jahrhundert“ und von Vergänglichkeit, Tod, Heimat und Vertreibung im Leben von zwölf Figuren. Eine dieser Figuren ist besonders, denn ihr – der Figur des Gärtners – sei laut Frau Erpenbeck Werden und Vergehen der Natur zugeordnet. Die Autorin berichtet in der Folge von ihren „Versuchen“, den Gärtner als zentrale Figur einzuführen. So befindet er sich in einer Version sterbenskrank und verdurstend in einem Krankenzimmer und wünscht, sich selbst begraben zu können. Diese Version behandelt beispielsweise das zentrale Motiv des Grabens, Vergrabens und Begrabens im Roman sehr explizit.
Von der „unberechtigten Eigenbesitzerin“ – einer weiteren Figur im Roman – handelt das letzte, von Erpenbeck geschriebene Kapitel und in einer ersten Version beginnt der Abschnitt mit zwei anderen Figuren, einer Reinigungskraft und einem Fensterputzer, die in der Endversion nicht mehr vorkommen. Jenny Erpenbeck hat für ihren Roman Grundbücher durchstöbert, „absurde“ Gerichtsverfahren zu Rückübergaben besucht und hatte neben all dem zu dieser Zeit eigene Verlusterfahrungen zu verarbeiten, die sie nicht im Roman haben wollte. Deswegen wurden diese Versionen und Figuren letztlich weggelassen, so Erpenbeck, denn auch die Richterin lasse in diesem Kapitel „kein falsches Wort frei herumlaufen“. Kern der Version sei laut Erpenbeck die Diskrepanz zwischen einer juristischen Sprache und ihrer Unanfechtbarkeit im Kontrast zur Betroffenheit des Verlusts, womit ein weiteres zentrales Thema des Romans angesprochen wird.
Die Bedeutung der Vorlesung und der Preisgabe dieser wertvollen, verworfenen Anfänge des Romans beziehungsweise Ausgestaltungen der einzelnen Figuren liegt darin, dass die Schülerinnen und Schüler über die Genese einen vertieften Zugang zum Roman erhalten und durch diese Informationen aus erster Hand einen völlig neuen Blick auf die Abitur-Lektüre erhalten. Die Leistungskurse Deutsch unter der Leitung von Herrn Lukas Müsel und Frau Gaby Mandl-Steurer planten ursprünglich, nach Tübingen zu fahren und Frau Erpenbeck live zu erleben. Daraus wurde schließlich auf Grund des späten Termins (Vorlesungsbeginn um 19.00) und der Entfernung in Anbetracht am nächsten Tag anstehender Klausuren dann aber doch nichts und die Kurse entschieden sich für ein gemeinsames Live-Streaming, das die Universität Tübingen im Rahmen der Literaturreihe anbietet, im Musiksaal des FAG. Rückblickend die beste Entscheidung, denn als die FAGler müde die Übertragung nach Erpenbecks Vortrag zu „Heimsuchung“ abbrachen, war es bereits 21.30 und die Begeisterung groß, die Vorlesung aber noch lange nicht zu Ende.








