Bericht aus Afrika

Abitur - und dann?

Nach dem Abitur kann man allerlei machen: Man kann nach Australien oder Neuseeland gehen, um zu arbeiten und zu reisen. Man kann auch ein FSJ machen. Oder man geht in den Tschad, so wie Benjamin Klaiber, der 2019 sein Abitur am Friedrich-Abel-Gymnasium ablegte. Für ihn war bereits im August 2018 klar, dass er in eines der unterentwickeltsten und ärmsten Länder der Welt gehe wollte. Umgeben von Kamerun, Nigeria, Niger, Libyen und dem Sudan liegt der Tschad in einer im wahrsten Sinne des Wortes „spannenden“ Zone der Welt. Sein Einsatzort in einem Waisenhaus der christlichen Gesellschaft SAHEL LIFE e.V. liegt in Abéché, 900km nordöstlich der Hauptstadt N’Djaména (was ungefähr wie „Dschameehna“ ausgesprochen wird).


In Zeiten, als Corona höchstens als Atmosphäre der Sonne bekannt war, nämlich im September 2019, flog Benjamin mit drei Kolleginnen in die andere Welt, eine Welt, die nicht mit der hier zu vergleichen ist. Eine seiner ersten Fragen nach seiner Ankunft in N‘Djaména war: „Wie hoch ist hier ungefähr die Arbeitslosenquote?“ Er musste lernen, dass es Arbeit, wie sie in Deutschland an der Tagesordnung ist, dort nur für die allerwenigsten (fast ausschließlich Staatsbeamte) gibt. Wie sich die anderen über Wasser halten, blieb ihm bis heute ein Rätsel. Die Arbeitslosigkeit ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Quote der Analphabeten enorm hoch ist, ganz besonders unter Frauen. Und auch darauf, dass der Tschad linguistisch wie kulturell ein einziger Flickenteppich ist: Die Region im Norden des Tschad, in der auch Abéché liegt, ist stark arabisch geprägt, sodass als eine von knapp 200 im Tschad gesprochenen Sprachen in seiner Region das Tschadarabische vorherrschend ist. Im Süden des Tschad gibt es dagegen ganz andere Sprachen, die so klingende Namen tragen wie Ngambai, Lele, Gor usw.
Zur Wohnsituation des durchschnittlichen Tschaders in Abéché: Eigenheime bestehen meist aus einem Grundstück, auf das zwei oder drei Zimmer aus rohen Lehmziegeln mit Erde verputzt gebaut wurden. Mehr braucht es auch nicht, da sich das Leben sowieso fast vollständig draußen abspielt. Geht man jemanden besuchen (was man übrigens nicht ankündigt; man erscheint einfach), dann sitzt man stets auf einer überdachten Matte mit einem Teppich darüber, der Schatten spendet, und trinkt starken und für unseren Geschmack völlig überzuckerten Tee oder Kaffee.


Benjamins Alltag bestand, vor Corona versteht sich, hauptsächlich aus verschiedenen Aktivitäten, die auf seiner Station stattfanden. Dazu gehörten jeden Vormittag Vorschule mit vier- bis fünfjährigen Kindern, in der pro Klasse zu je 25 Kindern eine Lehrerin und ein Gehilfe, er oder eine seiner deutschen Kolleginnen, den Kindern gewisse Grundfertigkeiten beibrachten, die hierzulande normal wirken (einen Stift halten und malen, zählen etc.). Zudem wurde die Schulsprache Französisch, die im Übrigen auch die Teamsprache war, vermittelt. Und da es sich um eine christliche Vorschule handelt, wurden auch biblische Geschichten erzählt. Zur Vorschule hinzu kamen noch weitere Angebote, wie z.B. eine Bibliothek und Clubs für Mädchen und Jungen etc. Das Zentrum der bereits mehrfach erwähnten Station ist ein Waisenhaus, das in der ganzen Stadt bekannt und von der fast vollständig muslimischen Gesellschaft akzeptiert ist.


Das alles endete mit dem Ausbruch der globalen Corona-Krise, die schnell auch im Tschad ankam, abrupt, sodass sämtliche alltagsbestimmenden Aktivitäten plötzlich beendet wurden. Auch Besuche wurden aus Infektionsschutzgründen weitgehend untersagt. Da der internationale Flugverkehr in den Tschad recht schnell nach Ausbruch der Krise untersagt wurde, saß Benjamin vorübergehend fest. Als sich am 18.04.20 dann die mutmaßlich letzte Tür aus dem Tschad öffnete, zogen Benjamin und seine Kolleginnen die Reißleine und verließen nach siebeneinhalb Monaten den afrikanischen Kontinent mit einem Sonder-Rückholflug der Air France gen Paris. Die Pointe der Geschichte ist, dass alle drei aus dem Tschad, das zum Zeitpunkt der Abreise eine nur zweistellige Infektionszahl hatte, nach Deutschland kamen, das bereits mit zehn- oder hunderttausenden Infizierten aufwarten konnte. Dennoch kam zu ihrer sowieso schon auferlegten zweiwöchigen Eingangsquarantäne im Haus von SAHEL LIFE in Kirchheim noch einmal eine Zeit der COVID-19-Quarantäne dazu.


Als Quintessenz all dessen, was Benjamin erlebte und gelernt hat, sieht er, dass unser westlicher Weg des Lebens nicht der einzig mögliche ist. Im Tschad zählt die Person und nicht die Sache. Kommt Besuch, lässt man alles stehen und liegen, um den Gast zu bewirten. Jedes Haus ist immer für jeden offen. Natürlich ist das sicher ein zentraler Grund, warum es dem Land wirtschaftlich so schlecht geht. Doch finden wir uns hier nicht manchmal im anderen Extrem wieder? Vielleicht kann dieser kleine Eindruck aus einer anderen Welt zu denken geben, wie Leben auch aussehen kann. Wäre es nicht besser an der einen oder anderen Stelle von den Tschadern zu lernen und vor allem unendlich dankbar zu sein für das, was jeder von uns hat?


Ein Stück Fernweh nimmt Benjamin ab dem Wintersemester mit in sein Studium: Er wird in Bielefeld und Paris in einem deutsch-französischen Studiengang Chemie studieren. Französisch hat ihm schon in der Schule besonders gut gefallen: So kam er in den Tschad, so kommt er jetzt nach Bielefeld und schließlich nach Paris. Mit seinen zwei Abschlüssen wird ihm dann sicher die Welt offenstehen.