Jürgen Gückel zu Gast

 

Eigentlich war Jürgen Gückel letzte Woche nach Vaihingen gekommen, um am Mittwochabend beim KZ-Verein Vaihingen sein im September erschienenes neues Buch vorzustellen: „Heimkehr eines Auschwitz-Kommandanten: Wie Fritz Hartjenstein drei Todesurteil überlebte.“ Aber vorher fand er noch Zeit, um am Friedrich-Abel-Gymnasium aus seinem im letzten Jahr erschienen ersten Buch „Klassenfoto mit Massenmörder: Das Doppelleben des Artur Wilke“ zu lesen. Zu dieser Lesung hatte der Geschichts-Fachvorsitzende Benjamin Walf die Schüler und Schülerinnen aller zehnten Klassen eingeladen.
Der Autor Jürgen Gückel war 40 Jahre lang bei verschiedenen Zeitungen in Norddeutschland tätig, unter anderem auch als Gerichtsreporter des Göttinger Tageblatts. Mit seinem Ruhestand hatte er endlich die Zeit gefunden, sich an „seinen Fall“ zu erinnern und dessen Details zu recherchieren. „Sein Fall“ ist die Geschichte seines Klassenfotos, auf dem er als Erstklässler in der ersten Reihe zu sehen ist, zusammen mit seinem Klassenlehrer, dem Massenmörder Artur Wilke.
Zu diesem Zeitpunkt hieß er noch Walter Wilke, denn er hatte die Identität seines gefallenen Bruders angenommen, um nach dem Krieg seiner Bestrafung zu entgehen. Er war verantwortlich für die Erschießung von tausenden von Juden in Weißrussland. Seine Frau und seine drei Kinder lebten in der DDR. An seinem neuen Ort Stederdorf, zwischen Hannover und Braunschweig gelegen, heiratete er ein zweites Mal und bekam zwei weitere Kinder.
Die Geschichte scheint verwirrend, doch von Ausschnitt zu Ausschnitt der Lesung wird klarer, worum es Jürgen Gückel eigentlich geht: die Darstellung der Taten des Artur Wilke in Minsk in den letzten Jahren des Krieges. Er beschreibt dabei drastisch die Erschießungen von Zivilisten.
Aber noch etwas anderes beschäftigt Gückel. Wie erinnern sich Menschen an wichtige Ereignisse? Eines Tages wurde sein Klassenlehrer Walter Wilke in Stederdorf von zwei Männern aus dem Unterricht, um zu seinen Verbrechen bzw. denen seines Bruders – wer war er denn jetzt eigentlich? – vernommen zu werden. Er kam nie zurück. Gückel war damals noch in den unteren Klassen. Später hat er seine Klassenkameraden zu diesem Tag befragt; die Erinnerungen unterschieden sich beträchtlich. Zum Schluss war er sich selbst nicht mehr sicher, ob der Morgen so stattgefunden hatte, wie er sich in seiner Erinnerung eingeprägt hatte. Nach und nach entfaltete sich die ganze Geschichte: der Wechsel von Wilkes Identität, die neue Familie, die Aufnahme der eigenen Kinder in die neue Familie nach dem Tod ihrer Mutter. Sie wussten nicht, dass ihr Onkel in Wirklichkeit ihr leiblicher Vater war.
Immer wieder unterbrach Gückel seine Lesung und ergänzte noch weitere Informationen.
Schließlich dann der Prozess. Es war gar nicht möglich, alle Urkundenfälschungen und Vergehen im Zusammenhang mit dem Identitätswechsel sowie die Bigamie in den Prozess mit einzubeziehen. Schließlich bekam Artur Wilke, nun wieder in seiner alten Identität, zehn Jahre Zuchthaus für seinen Gräueltaten in Minsk, eine geringe Strafe. Nach seiner vorzeitigen Entlassung lebte er bis zu seinem Tode unbehelligt in Stederdorf.
Die Schüler und Schülerinnen hörten bis zum letzten Moment gespannt zu. Sie wollten noch so viel wissen: Haben die Kinder je erfahren, dass ihr Onkel in Wirklichkeit ihr Vater war? War Wilke als Lehrer nicht aufgefallen, wo er doch gar keine fertige Ausbildung hatte? Hat er sich in der Schule jemals rechtsextrem geäußert? Sind zehn Jahre Zuchthaus eine gerechte Strafe für Wilkes Vergehen?
Für alle hätte die Lesung noch weitergehen können. Wer jetzt noch neugierig ist, dem bleibt ja das Buch. Sehr facettenreich und historisch fundiert verbindet Gückel die Geschichte der Erinnerungen an sein Klassenfoto mit dem Fall des SS-Offizier und NS-Verbrechers Artur Wilke; eine sehr spannende und lesenswerte Darstellung der damaligen Zeit.